„Europäisierung der Verkehrstherapie“

DP Jens Abraham, PRO∙NON - Praxen Wiesbaden und Alzey

Im 24. Juni 2005 fand im heißen Düsseldorf der 13. PRO∙GRESS statt. Auf der sehr gut besuchten Veranstaltung folgten die Teilnehmer sieben Vorträgen und beteiligten sich trotz der Hitze rege an der Abschlussdiskussion. Im Folgenden soll ein Überblick der verschiedenen Beiträge für alle Interessierten, die nicht dabei sein konnten, gegeben werden.

Nach einer kurzen Einführung in das Thema von Dr. Hellwig und Dr. Meyer, begann Herr René Plank von der „Direction Générale de l'Energie et des Transports“ in Brüssel mit auf-schlussreichen Einblicken in die Arbeit der Europäischen Kommission.

„Europäische Trends und Konzepte in der Verkehrspolitik“:

Die europaweite Verbesserung der Straßenverkehrssicherheit ist ein politisches Leitmotiv der Europäischen Kommission. Das Aktionsprogramm der Kommission von 2003 gibt den Rahmen hierfür vor und beschreibt eine Reihe politischer Maßnahmen. Im Führerscheinrecht wird der Rahmen durch die Richtlinie 91/439/EWG gestellt. Eine neue Richtlinie zu diesem Thema („3. Führerscheinrichtlinie“) war zu Jahresbeginn in intensiver politischer Diskussion und das Europäische Parlament verabschiedete seine Änderungsanträge in Erster Lesung.Seitdem wurde die weitere politische Entwicklung im Rat jedoch gebremst. Eine Verabschiedung der neuen Richtlinie ist derzeit nicht absehbar. 

Das bestehende Führerscheinrecht auf Ebene der EU sieht als wichtigstes Prinzip die uneingeschränkte gegenseitige Anerkennung aller von anderen EU-Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine vor. Die Reichweite dieses Prinzips wurde vom EuGH im Fall Kapper 2004 dahingehend präzisiert, dass die Verweigerung der Anerkennung wegen Verstößen nur für die Dauer eines Entzuges, jedoch nicht zeitlich uneingeschränkt zulässig ist, weil dies einer unverhältnismäßigen Beschränkung des freien Personenverkehrs gleichkäme.
Weiterhin sind auf europäischer Ebene die Klassen von Führerscheinen, das Führerscheinformat sowie die Fahrprüfung geregelt. Nicht harmonisiert ist beispielweise die Fahrausbil-dung. Ebenso ist die Regelung von Rehabilitationsmaßnahmen derzeit ausschließliche Zu-ständigkeit der Mitgliedstaaten. Ein „Export“ derartiger Maßnahmen in andere Mitgliedsstaaten ist durch das vorerwähnte EuGH-Urteil verhindert.
Die weitere politische Entwicklung hinsichtlich der im Gesetzgebungsverfahren befindlichen 3. Richtlinie ist derzeit nicht abzuschätzen.

Herr Rechtsanwalt Frank R. Hillmann III aus Oldenburg berichtete anschließend über seine Recherchen zur

„Praxis des Fahrerlaubnisentzuges in anderen europäischen Ländern“:

  1. In nahezu allen anderen europäischen Ländern gibt es keine Regelung zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis, die mit der deutschen Fahrerlaubnisverordnung vergleichbar wäre. Wir sind hier dem Ausland sehr weit voraus. Auch gibt es bei weitem keine derart perfektionierte MPU-Praxis oder gar vergleichbare verkehrspsychologische Schulungskonzepte. Die Verkehrpsychologie - soweit sie denn schon praktiziert wird - steckt teilweise noch in den frühesten Anfängen.
    Gleichwohl gibt es eine Reihe von Anregungen aus dem ausländischen Recht, die zur Per-fektion unseres Systems beitragen könnten. Sie könnten helfen, die Mängel und praktischen Unzulänglichkeiten unseres Systems zu korrigieren. Die Mängel sind vor allem bei der Anordnung der MPU zu beobachten. Verkehrpsychologische Schulungsmodelle sind in der FeV nicht vorgesehen. Wir sollten deshalb in einen umfassenden europäischen Meinungs- und Erfahrungsaustausch eintreten und -basierend auf dem hier praktizierten System- eine ge-samteuropäische Fahrerlaubnis ordnung erarbeiten.
  2. Eine im europäischen Ausland unter Umgehung deutscher Eignungsvorschriften erworbene Fahrerlaubnis kann in Deutschland nicht auf Dauer genutzt werden. Zwar liegt nicht in jedemFalle strafbares Verhalten vor, spätestens bei einer Verkehrskontrolle werden die deutschen Behörden jedoch Eignungszweifel äußern. Die Gefahr eines Führerscheintouris-mus besteht bereits deshalb, weil nach deutschen Eignungsvorschriften als ungeeignet fest-gestellte Personen bis zu einer Kontrolle „unentdeckt“ und ohne Strafandrohung am deut-schen Straßenverkehr teilnehmen können.

Nach einer Pause ging es mit drei Beiträgen von Kollegen aus den europäischen Nachbarstaaten weiter. Den Anfang machte Mag. Dr. Gregor Bartl vom GF Institut "Gute Fahrt" aus Wien. Er konnte den Teilnehmern in seinem Vortrag

„Verkehrstherapeutische Maßnahmen zur Wiederherstellung der Kraftfahreignung in Europa – state of the art“

von den Ergebnissen eines EU-Projektes sowie von praktizierten Maßnahmen in Österreich berichten.

Europa: Nachschulungskurse sind im Kommen
Die Effizienz von Rehabilitationsmaßnahmen für verkehrsauffällige Lenker ist mehrfach belegt. Daher werden in zunehmend mehr EU-Staaten „Nachschulungskurse“ im Sinne einer Resozialisationsmaßnahme zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis eingesetzt.
Die Effizienz der Kurse ist nachgewiesen
Evaluationen einiger Kursmodelle haben ergeben, dass das Rückfallrisiko von Kursteilneh-mern gegenüber vergleichbaren Kontrollgruppen ohne Kursmaßnahme um ca. 50% reduziert wird.

Das Teilnehmerfeedback ist positiv
Im Rahmen des EU-Projektes „Andrea“ (Analysis of driver rehabilitation programmes) wurde eine Feedbackanalyse verschiedener Nachschulungskurse in Frankreich, Österreich, Bel-gien, den Niederlanden und Norditalien durchgeführt. Das Feedback von 1.375 Kursteilnehmern und 60 Trainern gewährt einen vertieften Einblick in die Bewertungeinzelner Kursinhalte und Methoden. Dadurch ist eine genauere Betrachtung der Wirkfaktoren mög-lich. Im Wesentlichen wird die Maßnahme von den befragten unfreiwilligen Teilnehmern als positiv zur Vermeidung künftiger Verkehrsdelikte bewertet.

Österreich:
Zwei Kursmodelle: für Alkohol und für andere Delikte
In Österreich wurden die ersten Nachschulungskurse für alkoholauffällige Lenker 1976 durchgeführt. Durch gesetzliche Regelungen kam es speziell in den neunziger Jahren zu einem deutlichen Anstieg der Kurse. Jeder Lenker mit mehr als 1,2 Promille und jeder Probe-führerscheinbesitzer, der schwere Verkehrsverstöße begeht bzw. gegen das 0,1 Promille Limit für Fahranfänger verstößt, muss in Österreich an einer verkehrspsychologischen Nach-schulung teilnehmen. Nachschulungskurse, die auf andere als Alkoholdelikte abgestimmt sind, werden auch von Verkehrspsychologen geleitet, aber in Zusammenarbeit mit Fahrschulen durchgeführt.

Über

„Verkehrstherapeutische Maßnahmen in Italien“

klärte uns Dr. Max Dorfer, Leitender Verkehrspsychologe der Sanitätsbetriebe in Bozen auf:

Die Verkehrpsychologie gab es in Italien bis vor 10-15 Jahren nicht einmal als begriffliche Wirklichkeit. Dasselbe betrifft therapeutische und rehabilitative Maßnahmen zur Wiederherstellung der Fahreignung. Im Bereich der Fahreignungsdiagnostik und der Therapie und Re-habilitation von Kraftfahrern spielen Psychologen derzeit auch nur eine sehr untergeordnete Rolle. Dies hängt zum Teil auch damit zusammen, dass die Tätig der Psychologen erst seit 1989 gesetzlich geregelt ist. Mit Einführung des Punkteführerscheins vor einigen Jahren wurden in Italien Kurse zur „Wiedererlangung“ der verlorenen Punkte vorgesehen. Sie werden von hauptsächlich von Fahrlehrern angeboten. Es geht hier leider hauptsächlich um eine reine Wissensvermittlung. Die Wirksamkeit ist sehr umstritten und zweifelhaft.
Im Laufe der Jahre wurde aber immer mehr die dringende Notwendigkeit der Therapie und Rehabilitation von auffälligen Kraftfahrern erkannt. Die Rehabilitation und Therapie ist vom Gesetz derzeit nicht vorgesehen und somit auch nicht geregelt. Sie kann aber im Rahmen der Überprüfung der Fahreignung z.B. nach Trunkenheitsdelikten „empfohlen“ werden. Die Maßnahmen reichen von einfacher Wissensvermittlung bis zu ausgereiften verkehrspsychologische Maßnahmen, ähnlich wie sie in Deutschland vorgesehen und angeboten werden.
Eine Vorreiterrolle diesbezüglich hat in Italien die Sektion Verkehrspsychologie aus Bozen. Hier werden solche Maßnahmen bereits seit 1997 angeboten. Diese Maßnahmen wurden öfters auf Tagungen und in Publikationen vorgestellt und stoßen auf großes Interesse. Die Erfahrung der letzten Jahre hat auch gezeigt, dass eine gesetzliche Regelung der gesamten Materie notwendig ist. Damit ist die Notwendigkeit des Nachweises der Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen (Verkehrstherapie, verkehrspsychologische Nachschulung und Beratung), die Akkreditierung der Anbieter der Maßnahmen und die Notwendigkeit einer adäquaten Ausbildung der Verkehrpsychologen gemeint. Dies dient dem Schutz der Allgemeinheit und der Klienten.
Die Erfahrung hat auch den Wert der verkehrspsychologischen Untersuchung für eine gezielte Maßnahmenauswahl zur Wiederherstellung der Fahreignung gezeigt. Wünschenswert wäre es auch die Maßnahmen kurz nach der Tat einzusetzen. Somit wären die Betroffenen zu einem frühestmöglichen Zeitpunkt über die verschiedenen Möglichkeiten zu informieren und beraten.

Schließlich erfuhren wir von Dr. Jan Vissers, Senior Projektleiter, von Traffic Test in Veenendaal (Niederlande) und seinem Kollegen Rob van Beekum, von The Dutch Driving Test Organisation, von einem neuen Rehabilitationsprogramm in den Niederlanden:

“Rehabilitation of drunk drivers in the Netherlands: state of affairs.”

1996 wurde in den Niederlanden ein neues Rehabilitationsprogramm eingeführt, um das Problem Trinken und Fahren anzugehen. Hauptbestandteil dieses Programms, des „Educational Measure Alcohol and Traffic (EMA)“, sind Gruppenseminare. In den Jahren 2002-2003 wurde ein Qualitätssicherungssystem mit dem Ziel entwickelt, Informationen darüber zu sammeln, wie die Kursleiter das Programm umgesetzt haben. Ein Beobachtungssystem soll Fehler in der Umsetzung sowie Effektivitätsunterschiede zwischen verschiedenen Kursen entdecken. Damit soll sichergestellt werden, dass die Qualität der Kurse überall gleich ist. In der Zukunft soll das EMA-Programm noch ausgeweitet werden, indem auch Kurse für auffällige Kraftfahrer mit niedrigen Blutalkoholkonzentrationen angeboten werden. Angedacht ist auch individuelles Rehabilitationsprogramm, das in Kombination mit einem „alcohol lock“ eingesetzt werden soll.

Nach einer weiteren Pause, in der es galt, verlorene Flüssigkeit aufzunehmen, konzentrier-ten sich die Teilnehmer auf eine Thema, das alle bewegt und von PRO∙NON im nächsten PRO∙GRESS wieder aufgegriffen werden wird: Dr. phil. Edzard Glitsch von der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald schilderte dem Publikum die Ergebnisse eines Forschungsprojekts mit dem Titel:

„Den Anreizwert von Verkehrstherapie erhöhen und Klienten frühzeitig motivieren“

Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Greifswald mit Trunkenheitsfahrern in Mecklenburg-Vorpommern konnte aufgezeigt werden, dass vor allem ein mangelndes Problembewusstsein der Trunkenheitsfahrer, eine ungünstige Informationslage, Passivität von Behörden und Anbieter von Informationen, Kosten und die Erreichbarkeit von Beratungsan-geboten Hauptgründe für die Nichtinanspruchnahme von Hilfsangeboten sind. Vor diesem Hintergrund wurden deshalb die aktuell bestehenden Abläufe im Bereich der strafrechtlichen Verfolgung und Aburteilung der alkoholisierten Verkehrsteilnahme bis hin zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis einer prozessanalytischen Betrachtung unterzogen. Als Ergebnis ließ sich feststellen, dass eine Prozessoptimierung vor allem durch ein pro-aktives und strategisch verändertes Beratungsvorgehen, die stärkere Einbindung von Polizei und Gerichten, individuell und mit Verpflichtungscharakter gestaltete Einladungen zu einem Beratungstermin zu einem früheren Zeitpunkt (bereits unmittelbar nach Tatfeststellung über die Polizei und Gerichte), die Kommunikation von Anreizen (Sperrfristverkürzung, Vermeiden von Fahreignungsbegutachtungen, über 90%ige Erfolgsquoten bei Begutachtungen) und die Lösung von Kommunikationsproblemen erreicht werden kann.

Der letzte Beitrag des PRO∙GRESSes kam von Dr. habil. Johannes Lagois von der Dräger Safety AG & Co. KgaA. Er klärte die Teilnehmer über wesentliche Fakten des Alkohol-Interlock-Gerätes auf und riss das geplante Projekt in Zusammenarbeit mit PRO∙NON an.

„Verkehrstherapie in Kombination mit Alkohol-Interlocks: ein Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit im Straßenverkehr“

Was ist ein Alkohol-Interlock?

Ein Alkohol-Interlock ist ein Atemalkohol-Messgerät mit Wegfahrsperre. Nach einer Atemalkoholmessung hindert es alkoholisierte Personen, den Motor eines Fahrzeugs zu starten.
Ein Alkohol-Interlock besteht aus zwei wesentlichen Komponenten: dem Atemalkohol-Messgerät mit dem Messsystem, das sich im Innenraum des Fahrzeugs befindet, sowie dem Steuergerät,das in der Regel unter dem Armaturenbrett installiert wird und die Stromzufuhr zum Anlasserrelais des Fahrzeugs freischaltet, bzw. blockiert. Ein Alkohol-Interlock kann einfach in ein Kraftfahrzeug eingebaut werden.

Bedienung
Nach Einschalten der Zündung fordert das Alkohol-Interlock zur Abgabe einer Atemprobe auf. Das Messergebnis der Atemalkoholkonzentration entscheidet darüber, ob der Anlasser des Fahrzeugs freigeschaltet wird und damit der Motor gestartet werden kann.

Technik
Ein zuverlässiges Interlock ermittelt die Atemalkoholkonzentration heute mit einem elektrochemischen Sensorsystem, wie es auch in Atemalkohol-Messgeräten der Polizei verwendet wird. Der elektrochemische Sensor spricht sehr spezifisch auf Alkohol an, so dass andere ausgeatmete Substanzen oder Zigarettenrauch das Messergebnis nicht verfälschen. Auch Manipulationsversuche zur Umgehung des Alkohol-Interlock werden von modernen Geräten sicher erkannt und der Motorstart wird verhindert.

Datenspeicherung und Datenprotokoll

Während der Benutzung des Fahrzeugs werden alle für den Einsatz relevanten Ereignisse in einem Datenspeicher des Alkohol-Interlock aufgezeichnet. Gespeicherte Daten sind Datum, Uhrzeit, Abgabe oder Verweigerung einer Atemprobe, gemessene Alkoholkonzentration, Motorstarts- und -stops, elektrisches Überbrücken des Interlock sowie andere Manipulationsversuche.

Einsatz in der Verkehrstherapie

Die gespeicherten Daten können ausgelesen und in einem Protokoll zusammengestellt werden. Bei Einsätzen des Alkohol-Interlock als Ergänzung zur Verkehrstherapie kann dieses Protokoll als Gesprächsgrundlage mit dem Klienten benutzt werden. Dadurch ist es möglich, eine direkte Rückkopplung über das Verhalten zu geben und zusätzlich die ordnungsgemäße Benutzung des mit dem Alkohol-Interlock ausgestatteten Fahrzeugs zu überwachen.